Bibliotheken als „Dritte Orte“


Bibliotheken braucht heute kein Mensch, heißt es, wir haben doch das Smartphone. Weit gefehlt! Denn die Bibliothek bietet mehr als Information und gewinnt im digitalen Zeitalter gerade als physischer Ort an Bedeutung.


August 2017



Weil sich Informationsbedürfnisse im Internetzeitalter schneller und komfortabler befriedigen lassen als sich in die örtliche Bibliothek zu begeben, wurde bereits das Aussterben von Bibliotheken an die Wand gemalt. Doch ist diese Diagnose vorschnell, waren Bibliotheken doch immer schon mehr als Verwahranstalten für Bücher. Öffentliche Bibliotheken zeichnen sich seit jeher durch ein niedrigschwelliges Angebot aus, Zutritt und Anwesenheit sind kostenlos und an keinerlei Bedingungen geknüpft. Doch steigt klarerweise mit der allgegenwärtigen Informationsverfügbarkeit und der fortschreitenden Digitalisierung von Büchern der Druck auf Bibliotheken, ihre Rolle neu zu definieren, auch ein Stück weit neu zu erfinden und nicht zuletzt ihr Angebot deutlicher zu erklären und unter die Leute bringen.

Es erscheint paradox: Gerade in der digitalen, virtuellen Welt gewinnt die Bibliothek als physischer Ort an Bedeutung. Galten Überlegungen hinsichtlich der Bibliothek als physischer Raum herkömmlich der architektonischen und baulichen Aspekte der Raumgestaltung, waren Bestände und Sammlungen maßgebend für die Raumgestaltung, so geben heute Nutzer mit ihren Bedürfnissen und dem Benutzerverhalten einer digitalen Informationsgesellschaft den Ton an. So muss man feststellen, dass Zweckbestimmung und Nutzung von Bibliotheksraum nach wie vor gegeben sind, auch wenn sich Anforderungen an die Räumlichkeiten im Laufe der Zeit verändert haben.

Inwiefern öffentliche Bibliotheken in unserer zunehmend virtualisierten Lebenswelt von Bedeutung sind, dazu finden sich in dem von Ray Oldenburg entwickelten Konzept des „Dritten Orts“ wertvolle Ansatzpunkte. Kneipen, Buchläden oder kleinstädtische Fußgängerzonen versteht der amerikanische Soziologe allesamt als „third place“, weil sie im Gegensatz zum „first place“ des Wohnens und zum „second place“ des Arbeitens ungezwungene Öffentlichkeit auf neutralem Boden bieten. Nach Oldenburg vermittelt der „Dritte Ort“ ein Gefühl des „zweiten Zuhauses“ als auch der Zugehörigkeit, ist leicht zugänglich und gleicht Unterschiede zwischen Menschen aus, wird gern allein aufgesucht und setzt keine Mitgliedschaft voraus. Unschwer können also auch Bibliotheken als „Dritte Orte“ klassifiziert werden.

Wollen Bibliotheken im 21. Jahrhundert weiter von Bedeutung bleiben, gilt es, neben deren Informationsangebot weitere Vorzüge in den Vordergrund zu rücken: dass sie Individuum und Gesellschaft verbinden und ein „soziales Zuhause“ schaffen, in dem sich Menschen abseits von Familie und Arbeit in Anwesenheit von anderen und in angenehmer Atmosphäre aufgehoben fühlen. Bibliotheken füllen die Rolle „öffentlicher Wohnzimmer“ aus: Sie sind privater öffentlicher Raum und ermöglichen das Verfolgen individueller Ziele und Zwecke im Öffentlichen. Zudem gewähren sie eine Auszeit von der Hektik des Alltags, sie sind Oasen der Ruhe, Ungestörtheit und Kontemplation, bieten Rückzugsmöglichkeiten und handyfreie Zonen und sind Orte der Entschleunigung – oder wie Klaus Kunzmann es so schön nannte: „Zen-Gärten in der hektischen Stadt“.

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