Neue Normalität


Nach wie vor ist das „Normalarbeitsverhältnis“ zentrale Ordnungsgröße unserer Gesellschaft. Aber sind die neuen Phänomene der digitalen Arbeitswelt wirklich mit den alten Kategorisierungen zu fassen?


November 2018



Nicht weniger als Quell von Lebenssinn und Selbstwert soll Erwerbsarbeit sein. Auch wenn es um die Strukturierung des Alltags und gesellschaftliche Teilhabe geht, wird kaum etwas eine derartige Bedeutung beigemessen wie Arbeit. Das war nicht immer so. In der Antike galt Arbeit gar als unwürdig, im Mittelalter war sie Mühsal, die es schlicht des Überlebens willen auszuhalten galt und in der jüdisch-christlichen Tradition wurde Arbeit als Fluch Gottes verstanden, gearbeitet wurde als Sühne für den Sündenfall. Erst in einer neuzeitlichen Auffassung wurde Arbeit als Weg zu Freiheit begriffen, weil arbeitend der Mensch sich von Naturnotwendigkeiten unabhängig machen und nach dem eigenen Takt leben konnte. Lohnarbeit, wie wir sie heute kennen, bildete sich überhaupt erst mit dem Kapitalismus heraus: Die Vorstellung, Arbeitskraft wie andere Waren auch auf Märkten handeln zu können und Arbeitsbeziehungen als Vertragsverhältnisse aufzufassen hat sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg als zentrale Ordnungsgröße sowohl für das Leben jedes Einzelnen aber auch für die Gesellschaft insgesamt herausgebildet.

Heute sprechen wir vom „Normalarbeitsverhältnis“, wenn wir jenes abhängige, in Vollzeit und unbefristet ausgeübte Beschäftigungsverhältnis meinen, das als „normal“ gilt, weil es einerseits die vorherrschende, typische Form der Beschäftigung ist, andererseits als normatives Leitbild für arbeits- und sozialrechtliche Regelungen dient. Die moderne „Arbeitsgesellschaft“ ist derart fixiert auf dieses „Normalarbeitsverhältnis“, dass ihm weder empirische Befunde der zunehmenden Verbreitung atypischer Beschäftigungsformen etwas anhaben können, noch änderte eine bereits seit den 1980er Jahren währende Debatte über die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ viel am Stellenwert der Normalarbeit, in deren Zentrum die Auffassung stand, dass angesichts des technischen Fortschritts die Arbeitsgesellschaft ihre Versprechungen immer weniger einlösen kann. Doch nun, in Zeiten, da der technische Fortschritt rasant vonstattengeht, kehrt die Sorge um die ausgehende Arbeit und das damit verbundene Infragestellen der etablierten Ordnung mit voller Wucht zurück. Angesichts massiver Fortschritte auf Feldern wie Künstlicher Intelligenz und Robotik ist die Rede von einem „Maschinenzeitalter“, in dem Maschinen derart leistungsfähig würden, dass sie nicht nur manuelle, sondern auch viele kognitive Tätigkeiten übernehmen könnten. Damit, so die Befürchtungen, seien wir endgültig an einem Punkt angekommen, an dem Menschen unweigerlich die Arbeit ausgeht.

Doch was ist es eigentlich, das uns „auszugehen“ droht? Denn wie die Geschichte zeigt, ist ja keineswegs fixiert, was unter Arbeit exakt zu verstehen ist. Wenn es aber über alle Zeiten hinweg keinen einheitlichen, starren Arbeitsbegriff gab, erscheint es dann nicht angebracht, sich im Lichte von technologischen Umwälzungen, wie wir sie derzeit erleben, umso mehr Gedanken darüber zu machen, was Arbeit heute bedeutet? Denn Technologie wandelt nicht nur, wie gearbeitet wird, zudem treten in der digitalen Sphäre völlig neue Arbeitsformen hervor. Gerade mit Blick auf Tätigkeiten in der Plattformökonomie erscheinen die traditionellen Begrifflichkeiten das neue Phänomen nur unzureichend zu fassen: Denn wer ist auf den Plattformen „Arbeitgeber“, „Arbeitnehmer“ und Kunde? Mögen diese Bezeichnungen das Arbeitsverhältnis des Industriezeitalters passend beschrieben haben, so werden sie den Produktions- und Arbeitsverhältnissen in der „Cloud“ kaum gerecht. Schließlich fungiert die Plattform lediglich als Mittler, Arbeitsaufträge werden nicht wie herkömmlich vom „Arbeitnehmer“ für den „Arbeitgeber“ erbracht, der schließlich eine Verbindung zum Kunden unterhält. Dazu kommt noch, dass Arbeitende in der Plattformökonomie nicht als Angestellte zu qualifizieren sind und ihre Tätigkeit zumeist nicht „normal“ ausüben, denn oftmals sind sie bloß gelegentlich, nebenberuflich, teilweise nicht einmal mit Einkommenserzielungsabsicht tätig.

Auch die Rede vom „Arbeitsplatz“, in der immer die Raum- und Zeitbezogenheit von Arbeit mitklingt, führt in die Irre. Mit der Auflösung raumzeitlicher Grenzen in der digitalen Ära kann der „Arbeitsplatz“ jedoch nicht mehr durch fest abgesteckte Orte und Zeiten definiert sein. In dem unsere Zeit kennzeichnenden Zustand „rasenden Stillstands“, wie Paul Virilio es nannte, können Arbeitende virtuell immer überall sein, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Im vernetzten Zeitalter schrumpfender Räume und zusammenschnurrender Zeiten ist der Arbeitsplatz etwas, das durch Kommunikationsbeziehungen abgesteckt ist. Dies hat dann zur Folge, dass digitale Arbeit in vielen Fällen „unsichtbar“ ist: Weil Arbeitende hinter Bildschirmen verborgen bleiben oder weil Tätigkeiten nicht marktgängig sind, als freiwillig oder Hobby abgetan werden oder weil sie schlicht nicht in die Kategorien passen, die Arbeit traditionell beschreiben. Bereits im Zuge besagter arbeitssoziologischer Debatte nahm André Gorz unsichtbare Arbeit, wie etwa Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit, in den Blick, um für die Erweiterung des Arbeitsbegriffs zu plädieren. In einer Tätigkeitsgesellschaft sollten jene zumeist im häuslichen Bereich, unbezahlt und unreguliert, überwiegend von Frauen ausgeführten Arbeiten sichtbar werden.

Weil wir nur dasjenige als Arbeit wertschätzen, was wir überhaupt wahrnehmen sowie durch unsere gedanklichen Modelle als Arbeit identifizieren, findet viel Arbeit, die heute unter veränderten Bedingungen der digitalen Ökonomie stattfindet, zu wenig Beachtung. Die neuen Erscheinungsformen von Arbeit mit den alten Begrifflichkeiten und Kategorisierungen fassen zu wollen, um die Weichen in Richtung einer guten Zukunft der Arbeit zu stellen, gleicht das nicht letztlich dem Versuch des Betrunkenen, einen verlorenen Schlüssel im Lichtkegel einer Straßenlaterne finden zu wollen, nur weil es dort heller ist, obwohl der Schlüssel doch anderswo verloren ging?

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