90 Sekunden Urlaub


Wandelt sich mit Virtual Reality der Stoff, aus dem Urlaubsträume sind? Statt Milliarden von Sandkörnern ein Meer von Datenschnipseln?


August 2015



Jeder Urlaubsreise ging in der prä-Internetära dasselbe Ritual voraus: Man wälzte wochenlang Stapel von Reisekatalogen, nahm ein Land und dann eine Region in die engere Auswahl und suchte schließlich aus den verbleibenden Seiten des Kataloges ein passendes Hotel. Schon beim Durchblättern der Kataloge kam Urlaubsfreude auf. Gebucht wurde schließlich beim örtlichen Reisebüro des Vertrauens. Heute, da man beinahe alles im „Netz“ erledigen kann, sind dort selbstverständlich auch Urlaubsreisen zu haben. Mehr und mehr Reisebüros wandern ins Internet ab und Reisekataloge sind eine aussterbende Art. Empfehlungen und Erfahrungen der Community in Reiseforen und auf Bewertungsplattformen treten an die Stelle der Beratung im Reisebüro.

Ob im guten alten Reisebüro oder über eine online Reiseagentur gebucht, eines hat sich jedoch nicht verändert: Mit einer Urlaubsreise kauft man irgendwie immer die „Katze im Sack“. Nicht wie bei Produkten zum „Anfassen“ geht man einfach in den Laden, bezahlt und geht mit der Neuanschaffung wieder nach Hause, sondern man bezahlt und bleibt mit der Ungewissheit, was man eigentlich soeben erstanden hat. Denn die Reise lässt sich im Vorhinein nicht erfahren, selbst die schönsten Fotos sind nur ein unpräziser Vorgeschmack auf das Erlebnis und der Zauber der Bildbearbeitung tut noch sein Übriges zur programmierten Enttäuschung.

Diese Ungewissheit abzubauen, dabei kann Virtual Reality wertvolle Dienste leisten. Virtuellen Umgebungen gelingt es, realitätsnäher als Fotos im Reisekatalog oder einfache Filme im Internet einen Eindruck zu geben, was ein Reisender von Urlaubsort und Hotel erwarten darf. Auf einem virtuellen Rundgang kann der Gast in spe sich ein Bild vom Zimmer machen, einen Blick in den Poolbereich und die Hotelbar werfen und sich davon überzeugen, ob die Aussicht vom Zimmer hält, was die Agentur verspricht.

Im Spiel- und Unterhaltungsbereich haben solche computergenerierten, interaktiven, virtuellen Umgebungen als erstes Fuß gefasst. Von Anfang an stellte sich natürlich die Frage, wie Virtual Reality in anderen Lebensbereichen sinnvoll eingesetzt werden kann. Dabei liegt der Reise- und Tourismusbereich nahe, denn immerhin geht es auch hier wie bei Computerspielen um das Entführen in eine andere Welt, um das Wegdriften aus dem Alltag, um Spannung, Erholung und neue Erfahrungen. Mit fortschreitender Technikentwicklung und immer lebensnäheren Erfahrungen, die in der virtuellen Realität entstehen, enden die Gedankenexperimente nicht dort, wo lediglich der Reisekatalog abgelöst werden soll. Die Frage liegt auf der Hand, ob wir überhaupt noch verreisen werden, wenn Virtual Reality Reiseerlebnisse schafft, die echten Erfahrungen so nahe kommen, dass man die Annehmlichkeiten einer Reise erfährt, ohne sich irgendwohin bewegen zu müssen.

Ob die Urlaubsreise vom heimischen Sofa aus eine Antwort geben kann auf Fernweh und Erholungssuche, liegt ganz im Auge des Betrachters. Wer im Urlaub vor allem Entspannung, Stressabbau, eine Auszeit vom Alltag und Erlebnisse sucht, den haben App-Entwickler bereits als Zielgruppe entdeckt: So bietet etwa die App „Ocean Rift“ einen Tauchausflug in die Unterwasserwelt, der von Begegnungen mit Delphinen und prähistorischen Reptilien bis zum Haiangriff nichts auslässt – und all das, ohne sich auch nur die Füße nasszumachen. Immerhin nutzt auch die NASA solche Techniken, um Astronauten auf virtuelle Urlaubsreisen zu schicken, damit deren physische und psychische Gesundheit während langer Missionen im All intakt bleibt. In einer virtuellen Welt treffen die Weltraumfahrer dann ihre Familie, wandern durch wunderschöne Landschaften und tauchen in Korallenriffen. Ein Vorgeschmack auf den Urlaub der Zukunft? Headset aufsetzen und schon ist man mittendrin im Traumurlaub?

Um dieser Vision so nahe wie möglich zu kommen, hat die Hotelkette Marriott einen Teleporter entwickelt, eine kleine, an eine Telefonzelle erinnernde Kabine, in der Reisende nicht nur visuell in fremde Regionen eintauchen, sondern ihren Urlaub gleichzeitig fühlen und riechen können. Der Teleporter entführt Reisende beispielsweise an Hawaiis Strände und lässt sie die Wärme auf der Haut, die Seebrise und salzige Meeresluft spüren sowie das Gefühl gedämpften Laufens auf Sand. Sobald man virtuell auf dem Strand landet, sorgen pneumatische Pumpen im Boden, Nebeldüsen in den Wänden, Heizungsgebläse und Ventilatoren, Duftspender und ein 1000-Watt-Verstärker sorgen für ein lebensnahes Urlaubsgefühl. Die Reise dauert rund 90 Sekunden und kommt durch eine unvorstellbare Masse an Daten zustande.

Wird Virtual Reality also künftig nicht nur den Reisekatalog, sondern gleich den gesamten Sommerurlaub ersetzen? Immerhin ließe sich der aufregendste Urlaub selbst mit dem knappsten Geldbeutel realisieren. Auch könnten virtuelle Reisen die mit dem Massentourismus verbundenen negativen Umwelteinflüsse etwas eindämmen helfen. Auch wird Reisen neuen Zielgruppen zugänglich, etwa wenn jemand körperlich nicht imstande ist, eine Reise auf sich zu nehmen. Oder schlicht sich die Mühe ersparen will, einen Gipfel zu erklimmen, aber auf die Aussicht nicht verzichten möchte. So würden Ausflüge in schwer zugängliche Regionen für eine breitere Masse möglich. Schließlich ist auch denkbar, dass Virtual Reality zu einer Neudefinition dessen führt, was wir unter Urlaub verstehen: Werden wir beispielsweise künftig in der Mittagspause eine kurze Auszeit nehmen, um sie am Strand zu verbringen oder einen Tauchgang zu erleben?

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