Der überwachte Körper


Technik ändert den Blick auf den Menschen: Was bedeutet Gesundheit in Zeiten der Totalvermessung?


August 2018



Für Anhänger der Quantified-Self-Bewegung führt der Weg zu einem optimierten Leben über die genaue Kenntnis ihrer Körperfunktionen. Schlafrhythmen, Herzfrequenzen, Bewegungsmuster und Ernährungsgewohnheiten: Mit Hilfe von am Körper getragenen Sensoren und Smartphone-Apps wird penibel Buch geführt über diverse Vitaldaten. Aber es ist nicht mehr nur das elektronische Armband, das ein waches Auge auf unseren körperlichen Zustand hat. Das Datenschürfen im Dienste von Fitness und Gesundheit geht viel weiter. Denn auch die Medizin ist immer stärker an personenbezogenen Datensammlungen interessiert, um schneller und gezielter Diagnosen zu stellen und Therapien für jeden einzelnen Patienten maßzuschneidern.

Dazu wird der Körper angezapft: Die Messung von Vitaldaten am Armgelenk weitet sich vom Fitnessbereich immer weiter in den Medizinbereich hinein aus. Aber nicht nur das – die Vermessung könnte bald buchstäblich unter die Haut gehen. Mit Hilfe eines synthetischen Gennetzwerks wollen Wissenschaftler der ETH Zürich Krebs in einem sehr frühen Stadium erkennen. Ein implantiertes Gennetzwerk überwacht kontinuierlich den Kalziumpegel im Blut und stößt bei erhöhten Werten – ein Indiz für Tumorwachstum – die Produktion von Melanin an: Ein Leberfleck entsteht als Frühindikator. Forscher der Universität Stuttgart entwickelten eine winzig kleine Nanokamera, die mittels Spritze injiziert in Körperteile vordringen kann, die bislang für Kameras nicht zugänglich waren. So soll der menschliche Körper akribisch erforscht werden können. Wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis Implantate die verschiedensten Körperdaten einsammeln und an das Smartphone oder direkt zum Arzt schicken und frühzeitig Alarm zu schlagen, sobald sich gesundheitliche Probleme ankündigen? Gleichzeitig natürlich dient all diese implantierte Technik demselben Zweck, wie man ihn aus der Quantified-Self-Bewegung kennt: das Verhalten des Vermessenen soll durch die Informationsbeschaffung, Herbeiführung von Transparenz und nicht zuletzt Aufbau sozialen Drucks beeinflusst werden.

In einem derart technisierten Umfeld könnte sich die Aufgabe der Ärzteschaft drastisch wandeln: Ging es bislang darum, Krankheiten zu behandeln, so bringen all die Sensoren die Möglichkeit mit sich – zumindest vorgeblich –, noch bevor sich die Krankheit bemerkbar macht, zu erkennen, dass etwas im Körper nicht rund läuft. Von dieser Möglichkeit ist es nur ein kleiner Schritt dazu, das ärztliche Aufgabenspektrum nochmals zu erweitern: hin zu einer paternalistischen Sorge um den Patienten, erst gar nicht krank zu werden. Dieses Resultat wird es jedenfalls sein, was das Verständnis medizinischer Versorgung angesichts der technischen Trackingmöglichkeiten bestimmen wird und an dem sich Ärzte in einem solchen Szenario werden messen lassen müssen.

Immer schon hat sich der Mensch Werkzeuge geschaffen, um den verschiedensten Zwecken nachzugehen; doch immer augenscheinlicher wird die Untrennbarkeit des Menschen von seinen technischen Artefakten. Wir stehen an einem Punkt, an dem die Synthese von medizinischem und technologischem Wissen unseren bisherigen Blick auf den menschlichen Körper und dessen Gesundheit gehörig beuteln könnte. Wo verläuft die Grenze zwischen Natürlichem und Künstlichem? Was bedeutet „normal“ und wann ist die Grenze zum Pathologischen überschritten? Mit der Frage von Normen und des Normalen hat sich bereits in den 1940er Jahren der französische Arzt und Philosoph Georges Canguilhem in seiner Dissertation „Das Normale und das Pathologische“ befasst und sieht darin keinen Gegensatz: „Gesund sein heißt nicht bloß, in einer gegebenen Situation normal, sondern auch – in dieser oder in anderen möglichen Situationen – normativ zu sein. Was die Gesundheit ausmacht, ist die Möglichkeit, die das augenblicklich Normale definierende Norm zu überschreiten; die Möglichkeit, Verstöße gegen die gewohnheitsmäßige Norm hinzunehmen und in neuen Situationen neue Normen in Kraft zu setzen.“ Ohne Zweifel wird das technisch erweiterte Leben Grenzverschiebungen hervorbringen, veränderte Normen werden sich etablieren. Oder wie Canguilhem sagen würde: „In einer gegebenen Umwelt und für einen bestimmten Komplex von Anforderungen ist man auch mit nur einer Niere normal.“ Alles eine Frage der Definition also? Müssen wir die menschliche Evolution künftig zusammen mit der Technikentwicklung denken? Umso wichtiger wird ein Nachdenken über das Machbare und Wünschenswerte in der Medizin werden.

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